„…dann trennen wir uns eben!“

Streiten gehörte zur Beziehung von Paul und Cora fast wie das tägliche Brot. Leider liefen ernste Auseinandersetzungen mit Cora immer nach dem gleichen Muster ab: Wenn der Streit eskalierte, beendete Cora ihn abrupt, indem sie aufsprang oder sich einfach umdrehte und mit dem Spruch ….dann trennen wir uns eben!…den Raum verließ. Oh, wie Paul diesen Spruch hasste!
Anfangs hatten diese Worte Paul noch in Panik versetzt. Dann war er hinter ihr hergestürmt und hatte sie angefleht, sich zu beruhigen und mit ihm bitte vernünftig zu sprechen. Es war jedes Mal eine mühsame Mission, die ihm irgendwann zum Hals heraushing. Mit seinem Flehen und Betteln kam er sich vor wie ein geprügelter Hund, der wieder gestreichelt werden will.

Inzwischen hatte er sein Verhalten geändert. Er lief ihr nicht mehr hinterher, sondern brüllte ihr seine Wut nur noch hinterher: „Blöde Gans! Dann sieh doch zu, wie du allein klarkommst!“ Manchmal, wenn er es auf die Spitze treiben wollte, rief er noch: „Merkst du eigentlich, dass du deiner Mutter immer ähnlicher wirst?“
Ja, damit wollte Paul sie treffen. Das gab er ehrlich zu. Er wusste genau, dass er mit dieser hinterlistigen Frage Coras wunden Punkt treffen würde. Das würde sie nicht ignorieren können! Es war sein bewährter, ultimativer Versuch, Cora an der Flucht zu hindern. Die Wirkung verblüffte ihn trotzdem jedes Mal aufs Neue, denn Sekun- den später stand sie wie eine Furie vor ihm. Aber jetzt ging es natürlich nicht mehr um den ursprünglichen Streit, jetzt war „High Noon“ angesagt …

Als stiller Beobachter braucht man keine besondere Fantasie, um sich den weiteren Fortgang dieses Streits auszumalen: Hier war die Eskalation vorprogrammiert. Pauls Frust war verständlich. Wenn Cora sich gerade wieder einmal durch Flucht der Auseinandersetzung entziehen wollte, schlug sein Frust in Wut um und er tat das, was die meisten in der Verfassung gern tun: er benutzte seine Kenntnis ihrer Schwachstellen, um zu verletzen. Im Guten hatte er es schließlich lange genug vergeblich versucht.
Aber so konnte und durfte es einfach nicht weitergehen.

Wenn ihre Beziehung nicht in Vorwürfen, Beleidigungen und Drohungen peu à peu ersticken sollte, würden Cora und Paul lernen müssen, sich richtig zu streiten. Das aber hatte besonders Cora offenbar nie gelernt. Sich Konflikten zu stellen und Streit auszuhalten, waren ihr fremd. Wenn sie erkennen würde, dass sie diesen wichtigen Lernprozess nachzuholen hat, würde Paul ihr dabei helfen, wenn er in Zukunft darauf verzichtet, sie zu beschimpfen und bewusst auf ihre Schwachstellen zu zielen. Früher oder später würde die alte Art Streit sonst tatsächlich in die Trennung führen, denn hier wurden Konflikte nicht ausgetragen, sondern nur in eineKampfzone verschoben, in der es nicht um Problemlösungen ging.

Die eigentlichen Konflikte wurden lediglich unter den Teppich gekehrt, von wo aus sie sich früher oder später den Weg ans Licht suchen würden. Partner, die eine gesunde Streitkultur pflegen, setzen sich mit ihren unterschiedlichen Ansichten, Wünschen und Bedürfnissen lebendig auseinander, ohne zu flüchten und ohne in Feindseligkeit zu verfallen.

Richtig zu streiten will allerdings gelernt sein. Je weiter der Streitanlass von der Beziehung entfernt ist, je weniger also Emotionen im Spiel sind, umso einfacher geht es: Keine Beziehung dürfte durch unterschiedliche Meinungen über die optimale Besetzung des Kanzleramts in Gezänk oder Streit ausarten. Etwas heftiger kann es da schon zugehen, wenn es im Auto um das falsche Abbiegen des Partners am Steuer geht. Bei genauerer Betrachtung erscheint diese Art Streit allerdings eher wie ein Spätausläufer kindlicher Sandkasten-Zankereien, in denen der Besitzanspruch an Eimer und Schaufel lautstark und schubsend durchgesetzt wurde.

In der Regel hat hier tatsächlich nur einer wirklich recht: Im Sandkasten war es damals der wahre Eigentümer der Schaufel – heute im Auto derjenige, der den Stadtplan besser kennt. Nur Rechthaberei und Zank führen zu gar nichts, sie kosten allenfalls Nerven. Gewöhnlich haben die Streithähne den Zank zum Glück vergessen, sobald der Anlass sich erledigt hat. Wer wird dem Partner schon vorwerfen, dass er vor zwei Wochen falsch abgebogen ist …

Anders sieht es aus, wenn es um die Vorliebe des einen und die Abneigung des anderen geht: Wenn beide wie die Kesselflicker am Kochtopf darüber streiten, ob die Spaghetti „al dente oder weich“ sein sollten und daraus am Ende eine partnerschaftliche Grundsatzfrage wird, dürften Appetit und Stimmung auf dem Nullpunkt sein, bevor das Essen auf dem Tisch steht. Aber können allein Nudeln wirklich einen so heftigen Streit auslösen? Anstatt sie anschließend schweigend und grollend runterzuwürgen, sollten beide gemeinsam überlegen, ob die Spaghetti möglicherweise nur stellvertretend für einen schwelenden Konflikt stehen. Es könnte ein interessantes Gespräch werden, in dem es jedenfalls nicht mehr um Spaghetti geht. Wenn sich in einem eskalierenden Streit gegenseitig beleidigt wird oder boshafte, abfällige Bemerkungen gemacht werden, ist anzunehmen, dass die beiden Kontrahenten ihr wahres Konfliktpotential ignorieren. Sie sollten unbedingt einmal unter dem berühmten Teppich nachschauen …Vorsätzlich verletzende oder gar demütigende Bemerkungen wirken wie ein Brandbeschleuniger: … Wie immer fehlt dir leider der Verstand, um das zu verstehen! oder: …Guck dich doch mal im Spiegel an! Wie siehst du überhaupt aus! Sie fachen das bereits lodernde Feuer an und machen einen ehrlichen Frieden anschließend schwierig, vielleicht sogar unmöglich. Solange die Partner nicht wissen, dass sie um ihrer Beziehung willen auch ganz anders, nämlich „lösungsorientiert“ streiten könnten, werden ernste Auseinandersetzungen immer wieder eskalieren, aber in der Sache ergebnislos bleiben. Mit rauchenden Köpfen sitzen die Streithähne hinterher da und wissen nicht, wie sie wieder zusammenfinden sollen.

Zu oft wird dann nur ein Scheinfrieden geschlossen, der über erlittene Demütigungen, Beleidigungen und Feindseligkeit hinwegtäuscht – der Alltag muss ja irgendwie weitergehen. Auf Dauer geht dadurch in der Beziehung allerdings mehr kaputt als die Summe aller Geschirrteile, die eventuell schon daran glauben mussten. Wenn die gegenseitige Wertschätzung und der Respekt voreinander fehlen, sind Rachefeldzüge für erlittene Verletzungen häufig die Folge – ein Desaster für jede Beziehung.

Aber was heißt eigentlich „lösungsorientiertes“ Streiten? Was sich hier so trocken und theoretisch anhört, ist nichts weiter als die Bereitschaft beider Partner, sich so zu streiten, dass am Ende immer eine Lösung des Kon- flikts und ein ehrliches Versöhnen möglich bleibt. Grundsätzlich sollten also Beleidigungen, Demütigungen, Spott, Hohn und Sarkasmus vermieden werden. Sie sind auf Dauer zerstörerisch und damit absolut kontraproduktiv.

Was aber ist zu tun, wenn Wut und Frust sich aufgestaut haben und es zum bekannten „Ausraster“ kommt? Zunächst einmal ist festzustellen, dass der nicht zwingend negativ sein muss. Möglicherweise bringt er Dinge ans Tageslicht, die schon seit einiger Zeit unter der Oberfläche schlummern und sich jetzt in der gereizten Stimmung zu Wort melden. Über den Umweg eines Ausrasters kann der Streit einen unerwartet positiven Effekt auf die Beziehung ausüben, wenn der Partner diesen Ausraster als aufrichtige Empörung empfindet. Wichtig ist allerdings das Verhalten des ausgerasteten Partners: Mit der Entschuldigung: „Es tut mir leid, dass ich dich eben so angeschrien habe“ sorgt er für die Entschärfung der aufgeheizten Stimmung und ebnet den Weg für eine konstruktive Lösung des Konflikts. Die Versöhnung wird nicht automatisch gleich nach dem Streit statt- finden. Es kann durchaus sein, dass beide Streithähne sich erst einmal besinnen müssen. Je heftiger die Auseinandersetzung bzw. der Ausraster war, umso wichtiger wird eine gewisse Verschnaufpause sein. Auf keinen Fall sollte die jedoch als Liebesentzug benutzt werden, um den anderen damit zu strafen – frei nach dem Motto: Glaub ja nicht, dass du so davonkommst! Du kannst von mir aus schmoren bis du schwarz bist!

Choleriker haben es naturgemäß schwer, beim Streiten die Kontrolle über ihre Wut zu behalten. Bei ihnen sind die Ausraster nicht Ausnahme sondern Programm. Mit ihrer Neigung zum Jähzorn brauchen sie keinen besonderen Anlass, ihnen reicht unter Umständen schon ein falsches Wort oder ein Tonfall, der ihnen nicht passt – und schon artet die Auseinandersetzung in Gebrüll und Beleidigungen aus.

Für den Partner eines Cholerikers wird das immer wieder zur grenzwertigen Erfahrung, die sich auf Dauer zur schweren Belastung für die Beziehung entwickeln kann. Er hat kaum eine Möglichkeit, seinen cholerischen Partner zu beruhigen. Mit den Worten: „Wenn du dich beruhigt hast, können wir gern weiterreden“ könnte er den Raum verlassen. Noch besser wäre es, wenn der Choleriker merkt, dass seine Aggressionen hochkochen und er selbst den Raum kurz verlässt. Es mag banal klingen, aber es könnte ihm helfen, wenn er sich für einen Moment im Spiegel betrachtet und in seinem Spiegelbild erkennt, was er seinem Partner zumuten würde, wenn er jetzt da weitermacht, wo er eben aufgehört hat. Voraussetzung ist natürlich, dass der Choleriker seine unkontrollierte Wut selbst als zerstörerisch erkennt und den Wunsch hat, das zu ändern.
Es gibt allerdings Choleriker, die mit ihrem Ausbruch Herrschaftsgefühle ausleben und so ihre Macht über andere genießen. Ihnen selbst fehlt die Absicht und die Einsicht, daran etwas ändern zu wollen. Warum sollten sie auch? Ihnen geht es dabei ja gut und hinterher sogar besser! Darum gehen nicht sie, sondern ihre Partner irgendwann zum Therapeuten – es sei denn, die haben inzwischen resigniert oder aber die Beziehung beendet.

Wenn das Streiten so viel Ungemach für den Frieden einer Beziehung birgt, stellt sich die Frage, warum man denn überhaupt streiten sollte. Die Antwort ist ziemlich simpel: Eine gesunde Beziehung braucht den „gesunden“ Streit, denn mit ihm werden Konflikte ausgetragen und geklärt – und welche Beziehung ist schonfrei von Konflikten!
Paare, die nie streiten, gehören nicht unbedingt zu den besonders glücklichen. Von seltenen Ausnahmen einmal abgesehen, riskieren sie irgendwann den ganz großen Knall, der all die unterdrückten Gefühle von Ärger, Wut und eventuell sogar Hass zum Vorschein bringt und unter Umständen zum Kollaps der Beziehung führen kann.
Nicht das Streiten selbst wird zur Gefahr, sondern die Art und Weise, wie gestritten wird. Wenn die gegenseitige Achtung gewahrt bleibt, wird selbst die heftigste Auseinandersetzung zum weiteren Baustein einer soliden Beziehung, in der die ausgesöhnten Streithähne hinterher liebevoll miteinander umgehen.
Auch den nächsten Krach werden sie garantiert gut überstehen.

Bis zum nächsten „Moment of Life“

Herzlichst

Ihre Dörte Thieme