Eine Liebesbezieung auf dem Prüfstand

Ich hatte wirklich nicht vor, Bea nach dem aktuellen Zustand ihrer Liebesbeziehung auszuhorchen, als ich sie fragte:“Hallo Bea! Na, wie gehts?“

Meine Frage war eine dieser belanglosen Begrüßungsformeln, auf die eigentlich niemand ein Statement erwartet – eine freundliche, aber hohle Redewendung eben.

Bea nahm mich jedoch beim Wort: „Danke, mir geht ́s ziemlich schlecht!“ Für einen Augenblick war ich irritiert. War sie krank oder arbeitslos? Ich hatte keine Ahnung, wir hatten uns länger nicht gesehen.

„Nein, meine Beziehung ist wohl am Ende! Ich weiß nicht, was in Friedrich gefahren ist. Wir hatten so eine gute Zeit zusammen. Plötzlich vermisst er seine Freunde, will sich endlich wieder mit ihnen treffen dürfen – als hätte ich ihm das vorher verboten! Auf einmal behauptet er, dass es für ihn und überhaupt für eine Beziehung wichtig sei, einen gewissen Freiraum zu behalten! Was hat er vor? Ich verstehe das nicht! Wieso will er sich auf einmal ohne mich amüsieren? Wenn er unsere Beziehung nicht mehr will, soll er es mir sagen! Seine Manöver kann er sich dann sparen!“

Bea war zutiefst empört. Der Rat einer Freundin hatte ihre Krisenstimmung noch verschärft: Sie müsse höllisch aufpassen:Am Anfang sei es immer erst einmal nur der kleine Finger…. Trennungen würden sich langfristig ankündigen, man müsse nur die Zeichen richtig deuten! So brauchbar die These im Allgemeinen auch sein mag, so unzutreffend schien sie mir in diesem Zusammenhang.

Am Anfang gibt es kein Zuviel an Nähe

Hier ging es offenbar um die grundsätzliche Frage nach Nähe und Distanz in einer Beziehung! Nach einer Zeit intensiver Nähe, fühlte Bea sich offenbar lieblos verstoßen. Erfahrungsgemäß kommt aber nach der ersten Phase des Kennenlernens und der Verliebtheit, in der es kaum ein Zuviel an Nähe gibt, die Zeit, in der der gesunde Wunsch nach mehr persönlichem Freiraum, nach einer gewissen Distanz also, erwacht. Ganze Dramen spielen sich in Beziehungen ab, wenn ein Partner plötzlich diesen Wunsch andeutet oder konkret äußert. Es ist ein altes Thema, das den Frieden einer glücklichen Zweisamkeit durchaus ins Wanken bringen kann. Emotionen und Ängste können den anfänglichen Konflikt zu einer ernsten Krise werden lassen, die nicht durch Appelle und schon gar nicht durch gut gemeinte Horrorvisionen aus der Welt zu schaffen ist. Bea stand mit ihrem Problem absolut nicht allein da. Zurzeit konnte sie es sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau, die ihren Partner liebt, ihm problemlos einen fröhlichen Abend mit seinen Freunden wünschen kann. Und doch war es wichtig für sie, eine solche Situation zumindest gedanklich einmal zu inszenieren und durchzuspielen. Vielleicht würde es mir gelingen, Bea am Ende zu einem Experiment bewegen zu können: Sie musste es wagen, gedanklich ihre eigene „rote Linie“ zu überschreiten.

Wie sie selbst sagte, gab es ein paar persönliche Dinge, für die sie sich, aus Rücksicht auf ihren Partner, nur kleine Zeitfenster erlaubte. Dazu gehörten einige besondere Maßnahmen zur Schönheitsflege oder Telefonate mit Freundinnen. Bisher versuchte sie all das möglichst zu erledigen, bevor Friedrich zu Hause war.

Das Experiment

> okay, dann stelle dir jetzt einmal vor, an dem Abend „ohne Friedrich“ könntest du alles das in Ruhe machen, was du bisher nur unter Zeitdruck erledigt hast. Du würdest selbst bestimmen, was du wie lange machen willst: Mit Haarkur und Gesichtsmaske bei Kerzenschein und Musik im duftenden Schaumbad liegen, mit Enthaarungscreme die Beine bearbeiten oder die Haare färben… Vielleicht guckst du dir abgeschminkt, mit einer Pizza auf dem Bauch, den Film an, den du schon lange gern sehen wolltest, auf den dein Partner aber nie Lust hatte, oder du kannst endlich einmal ungestört mit deiner Freundin so lange telefonieren, bis euch nichts mehr einfällt. Vielleicht hast du aber auch Lust, dich nach einer ausgiebigen Schönheitsflege „top gestylt“ mit Freundinnen zum Essen und Ausquatschen beim Italiener zu treffen. Wie auch immer du den Abend verbringen würdest, am Ende hättest du das Gefühl, dass es ein schöner Abend war.<

Natürlich hatte ich nicht erwartet, dass Bea in Begeisterung ausbrechen würde. Immerhin wurde sie nachdenklich, verzog aber skeptisch ihre Mundwinkel. Die Vorstellung, was alles passieren könnte, während sie ihrer Schönheitsflege nachging, bereitete ihr offenbar noch Unbehagen.

Als erstes würde sie sich von dem Missverständnis verabschieden müssen, dass der Wunsch des Partners nach mehr Freiraum ein Warnzeichen dafür ist, dass in der Beziehung etwas nicht stimmt! Dieser Irrtum führt zu dem typischen Vorwurf: Wenn du mich wirklich liebst, dann würdest du doch nicht freiwillig ohne mich etwas unternehmen wollen! – und dabei schrillen die Alarmglocken… Beas Gefühle spielen ihr gewissermaßen einen Streich, weil ihre Fantasie ihr etwas vorgaukelt, das sie völlig verunsichert und derart lähmt, dass sie sich nicht einmal vorstellen kann, einen Abend „ohne ihn“ genießen zu können. Mit dem Gewähren eines freien Abends könnten ja eventuell „schlafende Hunde“ geweckt werden.

In ihrer Abwesenheit könnte ihr Partner womöglich einer anderen Frau begegnen, die er interessanter und hübscher findet als sie. Nein, sie will es einfach nicht zulassen, dass er „ohne Aufsicht“ unterwegs ist, und das dann auch noch in Bierlaune! Arme Bea! Die Fantasie-Frau, die sie fürchtet, könnte ihm schon morgen im Firmenfahrstuhl begegnen, übermorgen an der Tankstelle oder nächstes Jahr im Supermarkt! Sie wird sich auf einiges gefasst machen müssen, wenn sie den wahren Grund ihrer Unsicherheit und Ängste nicht erkennt – aber der heißt nicht Friedrich!

Ein Zustand inniger Umklammerung

Nach der Phase des Verliebtseins gleiten Paare oft unbemerkt in einen Zustand inniger Umklammerung: Alles soll so paradiesisch bleiben wie am Anfang! Wenn es aber eigentlich gar nicht mehr so paradiesisch ist, wie es zu sein scheint, kann die Verdrängung des Problems skurrile Formen annehmen: Ich selbst kannte einmal ein Paar, das mir eines Tages bei Nieselregen im dezenten Partnerlook (gleicher Trenchcoat) unter einem „Partnerschirm“ (ein Schirm mit zwei Griffen) entgegenkam. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie mir als Paar begegneten – einige Wochen später waren sie getrennt. Wie sich herausstellte, befand sich schon seit Längerem eine dritte Person in den Startblöcken…

Aber zurück zu den Paaren, für die die innige Umklammerung Ausdruck ihrer tiefen Liebe ist: Zum Beziehungskiller kann sie werden, wenn es einem der beiden zuviel wird, weil er die Nähe irgendwann als Enge empfindet: Gemeinsame Unternehmungen werden dann gelegentlich schon einmal als Verzicht auf eigene Bedürfnisse und Interessen verspürt, und der häufige Wunsch nach einem gemütlichen Sofa-Abend vor dem Fernseher löst nicht mehr die Freude aus, wie einst am Anfang.

In eine solche Schieflage kann eine Beziehung durchaus schon geraten, bevor die gemeinsame Wohnung bezogen ist. Je intensiver der „Klammerzustand“ ist, umso stärker können die Verlustängste sein, mit denen auf den Wunsch
nach mehr Freiraum reagiert wird. Die vermeintliche Sicherheit ist plötzlich erschüttert – der paradiesische Zustand ist beendet. Diese ersehnte Sicherheit ist jedoch nur eine Illusion, es gibt sie auf Dauer nicht! Das Klammern als „Verlust-Versicherung“ wird letztendlich den Verlust eines Partners nicht verhindern können.

Mein Rat an Bea:

Um dir den ersten Abend ohne Friedrich zu erleichtern, verabrede dich mit Freundinnen! Sie werden dich ablenken, dir vielleicht sogar helfen können. Das Problem mit deinen Verlustängsten wirst du allerdings so nur vertagen. Wenn du es wirklich lösen willst, brauchst du Mut: Sei mutig und erinnere dich an Momente in deinem Leben, in denen du den schmerzhaften Verlust von Liebe tatsächlich schon erlebt hast! Das ist kein sadistischer Rat! Es ist der einzige Weg, deine verdrängten Ängste und unglücklichen Gefühle, die sich in deinem emotionalen Erfahrungsgedächtnis verborgen halten, als die Gefühle wiederzuerkennen, die dich gerade quälen. Wie ein Déjà-vu wird es dir in dem Moment vorkommen!

Die Angst vor der Angst

Du erlebst gerade die Angst vor der Angst, diese unglücklichen Gefühle wieder erleben zu müssen. Allein deine Fantasie hat es geschafft, sie zu aktivieren!
Im Moment versuchst du, deinen Partner mit deiner Wut und deinen Drohungen emotional zu erpressen, damit du deine Ängste loswirst. Aber mit diesen „alten“ Ängsten hat dein Partner eigentlich nichts zu tun! Er ist nicht der Verursacher, er hat sie lediglich in dir geweckt, ohne zu ahnen, was er mit seinem Wunsch bei dir auslöst. Wenn du das erkennen kannst, wird sich deine Sicht auf eure Beziehungskrise grundlegend verändern.

Mit dieser Erkenntnis betrachte den ersten Abend „ohne ihn“ als Experiment! Spiele ihn erst einmal nur gedanklich durch! Male dir aus, wie du ihn verbringen könntest, aber dann überwinde dich und sage Friedrich, dass der Abend mit seinen Freunden für dich okay ist! Weiche deinen Gefühlen nicht aus, mache aber Friedrich nicht länger für sie verantwortlich!

Der Anfang wird dir wahrscheinlich noch schwerfallen, aber du wirst etwas Wesentliches erkennen: Zu einer lebendigen Beziehung gehört beides – Nähe und Distanz!

Bis zum nächsten „Moment of Life!“

Herzlichst
Ihre Dörte Thieme