Hanna, die Retterin

„Sorry, ich dachte, du bist meine Freundin!“ – dieser Satz hatte Lena wie ein Faustschlag getroffen , denn er war alles andere als eine freundschaftliche Feststellung – Hanna verlangte einen Freundschaftsbeweis!

Vielleicht hätte sie Hanna jetzt einfach in die Arme nehmen und sagen sollen: „Aber ja doch, natürlich bin ich deine Freundin!“ Sie wusste nicht genau, was sie daran gehindert hatte, sie fühlte sich schlagartig einfach nur schlecht. War es die unausgesprochene Botschaft, die sich in dem Satz verborgen hielt? Die Drohung, die sich in Worten etwa so angehört hätte: Ich bin sehr enttäuscht von dir! Beweise mir deine Freundschaft, sonst ist es aus!

Hier bahnte sich offenbar gerade ein Drama an, wie es so oder ähnlich wohl nur in Frauen-Freundschaften vorkommt.
Aber fangen wir die Geschichte doch von vorn an …

Als sich die beiden Frauen vor zwei Jahren kennenlernten, ging es Lena ziemlich schlecht. Gerade hatte sie sich schweren Herzens von ihrem Lebenspartner getrennt, nachdem sie sein Doppelleben aufgedeckt hatte. und dann hatte sie zu ihrem Unglück auch noch feststellen müssen, dass sie nicht nur den Mann, sondern auch den gemeinsamen Freundeskreis verloren hatte. Um ihren inneren Frieden wiederzufinden, hatte sie sich in ihrer Verzweflung zu einem Yoga-Kurs angemeldet – und hier war sie Hanna zum ersten Mal begegnet. Auf Anhieb waren sich die beiden Frauen sympathisch und bald waren sie unzertrennliche Freundinnen. Hanna war immer für sie da und wusste immer Rat, wenn es ein Problem gab. Mehr und mehr wurde sie so zur unentbehrlichen Freundin, die nicht nur fürsorglich, sondern auch ungewöhnlich großzügig war. Wenn sie ihre Besorgungen machte, kaufte sie hin und wieder gleich für Lena mit ein, überraschte sie mit dem Brot vom Superbäcker am anderen Ende der Stadt oder mit Gemüse vom besten aller Wochenmärkte, mit kleinen Deko-Gegenständen für die Wohnung oder mit Kinokarten fürs Wochenende. Wenn Lena ihr Portemonnaie zückte, reagierte Hanna jedes mal entrüstet: Sie solle ihr doch bitte nicht die Freude am Schenken verderben!

In solchen Momenten fühlte Lena sich unwohl, wusste aber nicht, wie sie sich gegen all die Wohltaten wehren sollte, ohne ihre Freundin zu verletzen. Also versuchte sie, wann immer sich eine Gelegenheit bot, sich möglichst angemessen zu revanchieren. Sie gab zu, dass ihr das in der Vergangenheit so manches Mal Kopfzerbrechen bereitetet hatte.

Die Retterin macht Druck

Was Freundschaft anbelangt, hatte Hanna grundsätzlich ihre ganz eigenen Prinzipien: Freundinnen hätten immer füreinander da zu sein, dürften keine Geheimnisse voreinander haben und müssten absolut loyal sein …
Wie ernst es ihr damit war, hatte Lena in der Vergangenheit schon mehrfach erfahren: Warum hatte sie sich nicht gemeldet, als sie so erkältet war und zwei Tage im Bett liegen musste? Warum hatte sie sich nicht an Hannas Rat gehalten und diesen mr. X in den Wind geschossen? Warum hatte sie sie neulich nicht zurückgerufen? Warum hatte sie ihr nicht erzählt, dass sie sich mit Rosi getroffen hat? … Warum, warum, warum …

Lena fühlte sich oft bedrängt, wenn Hanna sie mit ihren Fragen löcherte, aber sie wagte es nicht, ihr das zu sagen. Hanna meinte es doch schließlich nur gut mit ihr!
Durch sie hatte sie sogar einen neuen Freundeskreis gewonnen, der sich regelmäßig, manchmal aber auch vereinzelt ganz spontan traf. Lena suchte keine neue Beziehung, sie war einfach froh, wieder Freunde zu haben. eine der Frauen hatte es ihr besonders angetan: Sie war witzig, unabhängig und eigenwillig in allem, was sie tat, sagte und wie sie sich kleidete. ihre angenehme Art zuzuhören, war eine Wohltat, aber die direkte Art, ihre meinung zu äußern, kam nicht bei jedem gut an. Lena hatte damit kein Problem, sie mochte ihre offene, ehrliche Art und freute sich, wann immer sie sie sah. Hin und wieder hatte sie sich schon spontan zum Plaudern „auf einen Kaffee“ mit ihr getroffen.

So hätte es weitergehen können, wenn Hanna sich nicht ausgerechnet mit dieser Freundin verkracht hätte. Sie behauptete, von ihr beleidigt worden zu sein, wollte darüber aber nicht sprechen. Für sie sei die Angelegenheit bereits erledigt, den Kontakt zu ihr habe sie abgebrochen. Peng!

Lenas Versuche, zwischen den beiden Frauen zu vermitteln, blieben erfolglos. Warum war Hanna nur so unversöhnlich? Inständig hoffte sie, dass sich die „Angelegenheit“ irgendwie doch noch regeln würde. mit dieser Hoffnung lag sie allerdings völlig daneben.

Hanna verlangte nämlich von ihr, dass auch sie den Kontakt zu „dieser Person“ abbrechen sollte! Als sie Lenas Fassungslosigkeit bemerkte, wurde sie ärgerlich: „Sorry, ich dachte, du bist meine Freundin!“

Die Retterin präsentiert ihre Rechnung

Dann präsentierte sie Lena ihre Rechnung: Hatte sie denn eigentlich schon vergessen, was sie als Freundin in der Vergangenheit alles für sie getan hatte? Ohne sie hätte sie wahrscheinlich gar keine Freunde, und diese Frau hatte sie doch nur durch sie kennengelernt! „… die würdest du doch sonst gar nicht kennen! Jetzt, wo ich dich auch einmal brauche, lässt du mich im Stich! Vielen Dank dafür!“

Das war’s! Ab sofort hatte sie keine Zeit mehr für Lena oder sie ging gar nicht erst ans Telefon. Lena war verzweifelt – dieser Situation war sie nicht gewachsen. Die Entscheidung, die Hanna von ihr verlangte, hatte sie in eine üble Lage gebracht. Warum sollte sie den Kontakt zu der anderen Freundin, die ihr inzwischen so viel bedeutete, abbrechen? Die hatte ihr doch gar nichts getan! Andererseits erschreckte sie der Gedanke, Hannas Freundschaft zu verlieren. Sie durfte sie wirklich nicht im Stich lassen, so viel hatte sie ihr zu verdanken! Jetzt würde sie sich als Freundin endlich einmal revanchieren können. Hatte Hanna nicht tatsächlich ein Recht auf ihre Loyalität?

Tja, Lena hatte noch nicht erkannt, dass sie Loyalität mit bedingungsloser Gefolgschaft und Fügsamkeit verwechselte. Sie war drauf und dran, sich von Hanna emotional erpressen zu lassen. Auch wenn es ihr schwer fiel, schien sie bereit zu sein, sich ihrer Forderung zu fügen. Wenn nur diese verdammte Eiszeit endlich ein Ende hätte!Sie hatte Hannas Machtspiel noch nicht durchschaut, in das die sie hineinzuziehen versuchte. Hanna war das Beispiel einer „Märtyrer“-Freundin, die sich mit ihrer grenzenlosen Fürsorge unentbehrlich macht und andere Menschen so an sich bindet. Der „Märtyrer“ als Erpressertyp fragt nicht danach, ob seine Wohltaten gewünscht sind – er ist ständig im Standby-modus und handelt. Der Gedanke, dass er sich damit möglicherweise „übergriffig“ verhält, existiert für ihn nicht. Früher oder später wird genau das für sein „Opfer“ zum Problem: es weiß nicht, wie es sich dagegen wehren soll, ohne verletzend zu sein: Der andere meint es doch schließlich nur gut! Damit ist der Zeitpunkt schnell verpasst, zu dem es noch eine friedliche Abgrenzung gegen das Zuviel des Gutgemeinten gegeben hätte.
Heikel wird die Situation, wenn der Märtyrer seine Ansprüche, die er aufgrund seiner Wohltaten zu haben glaubt, geltend macht. Werden ihm seine Erwartungen nicht erfüllt, reagiert er zutiefst beleidigt und enttäuscht: er selbst hat doch wirklich alles gegeben und nun erntet er dafür nichts als Lieblosigkeit! Die Verweigerung seiner Forderung erlebt der Märtyrer als Liebesentzug, der am Ende für ihn schmerzlichen Kontrollverlust bedeutet. Sein Einfluss auf diesen Menschen droht ihm verloren zu gehen, darum fühlt er sich im Stich gelassen. er hält sich selbst für das Opfer, das ausgenutzt und missbraucht wurde. Das unterscheidet ihn von den Menschen, die hilfreich und fürsorglich sind, ohne Ansprüche daraus abzuleiten.

Lena in der Schuld ihrer Retterin

Mit dem Aufrechnen all ihrer Wohltaten hatte Hanna immerhin erreicht, dass Lena sich in ihrer Schuld fühlte. Das Übermaß des Gutgemeinten, das sie in der Vergangenheit schon oft so wehrlos gemacht hatte – jetzt war sie dem völlig machtlos ausgeliefert: Die emotionale Erpressung hatte bereits den gewünschten Druck erzeugt. Im Moment glaubte sie tatsächlich, den Konflikt nur lösen zu können, wenn sie sich Hanna gegenüber als „loyale“ Freundin bewies – und nachgab.
Natürlich fällt es Außenstehenden sehr viel leichter, eine emotionale Erpressung zu erkennen und zu durchschauen, als den Betroffenen selbst: Während die Sicht eines Außenstehenden nicht durch eigene Gefühle getrübt ist, stellen sich beim Opfer einer emotionalen erpressung Gewissensbisse, Schuldgefühle und Verlustängste ein, die ihm den klaren Blick verstellen. Auch wenn es die Erwartung seines Erpressers mit widerstrebenden Gefühlen erlebt, tut es am Ende das, was es meint tun zu müssen, damit es sich von dem quälenden Druck befreien und wieder besser fühlen kann. So funktioniert emotionale Erpressung. Sie funktioniert aber nur so lange, wie das Opfer noch nicht durchschaut hat, was hier tatsächlich vor sich geht. Solange es im Chaos seiner Schuldgefühle und Verlustängste gefangen ist und glaubt, dass es allein seine Aufgabe ist, das Problem zu lösen, gleicht seine Rolle dem eines verzweifelten Kindes, das sich aus Angst vor Liebesverlust fügsam verhält.

Was bedeutete das für Lena? Mit der Kenntnis vom genauen Hergang einer solchen Erpressung würde sie durchschauen können, dass Hanna sie mit ihrem knallharten Liebesentzug und den vorhergehenden Vorwürfen bewusst unter Druck setzt, um sie gefügig zu machen. mit dieser Erkenntnis würde sich ihr Gefühls-Chaos klären und sie würde sich nicht länger als miese, undankbare Freundin erleben. Ihr würde bewusst werden, dass Hanna von ihr etwas verlangt, zu dem sie kein Recht hat.
Obwohl sie Hannas Verhalten inzwischen ziemlich kritisch sah, wusste Lena noch nicht, wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollte. Ich machte ihr daher den Vorschlag, mit Hanna ein offenes Gespräch „auf Augenhöhe“ zu führen, in dem sie ihr klarmacht, dass sie sie als Freundin nicht verlieren möchte, dass sie ihre Entscheidung aber selbstbestimmt treffen wolle und nicht aus Angst, sie sonst zu verlieren.

Lenas einzige Chance

Würden sich beide Frauen in dem Gespräch wirklich ehrlich begegnen, könnte es ein Gespräch über Eifersucht und Verlustangst werden, über Zuverlässigkeit, Treue und Vertrauen, aber auch über den Missbrauch von Freundschaft.
Lena könnte ihr sagen, dass sie sich wie der Schuldner eines Inkasso-Unternehmens gefühlt hat, als sie an all die erbrachten Freundschaftsdienste erinnert wurde. Es könnte ein Gespräch über Liebesgaben, Gefälligkeiten und gemeinsame Freunde werden und über die Verknüpfung all dessen mit Erwartungen und Ansprüchen.

Die Freundschaft der beiden Frauen hätte die Chance, an Ehrlichkeit, Klarheit, Tiefe und Substanz zu gewinnen. Zukünftige Freundschaften und Beziehungen würden sich daran messen lassen müssen.

Ja, und wenn Hanna dieses Gespräch nicht will?
In dem Fall müsste Lena sich gut überlegen, ob sie diese Freundin um jeden Preis halten will. Gibt sie nach, wüsste Hanna von nun an jedenfalls genau, wie sie mit Lena in Zukunft verfahren müsste: Sie würde nur Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen schaffen müssen, dann den Entzug einsetzen…. ja und dann?
Einfach nur abwarten ….siehe oben!

Bis zum nächsten „Moment of Life“

Ihre
Dörte Thieme