Ein verhängnisvolles Programm

Gewalt in der Liebe erleben auch die schönsten Frauen. Selbst intelligente Frauen sind nicht automatisch geschützt. Was hat der Typ Mann, der zu Gewalt neigt, eigentlich an sich, dass Frauen auf ihn hereinfallen?
Diese Frage stellt sich keine Frau in dem Moment, wenn dieser Mann vor ihr steht! Es steht ihm schließlich nicht auf die Stirn geschrieben. Sie nimmt ihn ganzheitlich wahr: Auf geheimnisvolle Weise ist er die Verheißung ihrer Träume! Ein einziger Flirt mit ihm – und schon ist der Tag bzw. Abend gerettet!

Welches Glück müsste es also sein, die Auserwählte eines Mannes zu sein, auf den so viele Frauen scharf sind? Es ist scheinbar ein so betörendes Gefühl, dass die Sehschärfe vorübergehend auf Null sinken kann!

Isabell war so eine „Auserwählte“. Sie hatte anfangs ihr Glück kaum fassen können, als sie bemerkte, dass ausgerechnet dieser Carlos sich in sie verliebt hatte. Mit seinem hintergründigen Charme hatte er etwas Hinreißendes, das jeden Widerstand zwecklos machte. Schon nach kurzer Zeit des Kennenlernens waren beide in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Für alle Außenstehenden schien der Traum vom ganz großen Glück hier in Erfüllung gegangen zu sein, bis…..

Alle hatten ihr blutunterlaufenes Auge gesehen

Tja, bis zu dem Tag, an dem Isabell gedankenlos für einen kurzen Moment ihre große dunkle Sonnenbrille abnahm  – wohl um die Speisekarte besser lesen zu können. Sie setzte sie zwar sofort wieder auf, aber es war zu spät! Alle hatten ihr blutunterlaufenes Auge gesehen. Liebe Güte! Was war denn das? „Nein! Nicht was ihr denkt! Ich habe mich beim Bücken fürchterlich gestoßen.“ Sie lächelte und Carlos, der neben ihr saß, streichelte sie liebevoll und nickte bedauernd.

Okay, wir dachten schon… Aber nein, der Gedanke war wirklich abwegig!
Die beiden waren ganz offensichtlich ein Liebespaar! Und sie waren ein auffallendes Paar, nach dem sich auf der Straße oder im Restaurant manche verstohlen umsahen. Isabell war nicht nur außergewöhnlich schön, sie war auch eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau und als solche international häufig auf Reisen. Wann immer es ihr möglich war, nahm sie den nächsten Flieger zurück nach München, um bei Carlos zu sein. Er hatte eine eigene Firma, die ihn ziemlich in Anspruch nahm, für die er aber die Zeit nutzte, wenn Isabell auf Reisen war – eine tolle Kombination, was die Berufe der beiden anging.

Wäre ein paar Wochen vorher die Sache mit der Sonnenbrille nicht gewesen, der große blaue Fleck an Isabells Handgelenk wäre im allgemeinen Geplauder untergegangen. War das Zufall?
Oder war hier etwa Gewalt im Spiel? Der Gedanke schien nach wie vor absurd, wenn man die beiden nebeneinander sah: Carlos war wie immer charmant zu jedermann und ausgesprochen liebevoll zu Isabell!

Panische Angst vor dem Wiedersehen

Inzwischen waren wieder Wochen vergangen, als ich völlig unerwartet einen Anruf von Isabells Freundin Selma erhielt: Sie bat mich zunächst um Verschwiegenheit, bevor sie mir in ein paar knappen Sätzen Isabells Situation schilderte. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Von ihr erfuhr ich das ganze Drama: Carlos hatte offenbar ein Riesenproblem mit Isabells häufigen Reisen, die ihr Beruf zwangsläufig mit sich brachte.Seine vielen Anrufe und SMS konnte sie beim besten Willen nicht immer prompt beantworten, meldete sich aber sofort bei ihm, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte: Sie musste ihn dann erst einmal trösten und ihm ihre Liebe schwören. Das tat sie anscheinend gern, weil sie sich schuldig an seinem Zustand fühlte: Sie meinte, ihm mit ihren Reisen auch wirklich viel zuzumuten.

Hin und wieder war nun das passiert, was in Isabells Branche keine Seltenheit ist: Das Kundenmeeting am Abend hatte sich länger hingezogen als geplant, und die letzte Maschine Richtung München war weg. Wohl oder übel musste sie die Nacht im Hotel verbringen. Alle Erklärungen und Rechtfertigungen in den Telefonaten an solchen Abenden konnten Carlos nie wirklich überzeugen, immer endeten sie in schlechter Stimmung.

Selma gegenüber hatte Isabell offenbar großes Vertrauen. Ihr hatte sie kürzlich gestanden, dass sie nach so einem verpassten Flug inzwischen schon panische Angst vor dem Wiedersehen hatte: Carlos käme ihr in solchen Momenten vor, als stünde er mit einer Pumpgun vor ihr: ein falsches Wort und der Schuss löst sich!

In dieser aufgebrachten Stimmung habe er sie schon mehrfach mit eisernem Griff gepackt – und zugeschlagen. Der Sex, der solchen Szenen gewöhnlich folgte, sei für sie kein Vergnügen, aber Carlos zeige ihr damit doch nur, dass er sie wirklich liebt! Für Isabell sei der Fall klar: Er liebe sie nun mal so sehr, dass er den Gedanken einfach nicht ertragen könne, dass sie mit anderen Männern ihre Abende verbringt.

Die sichtbaren Spuren seiner Gewalt waren damit allerdings nicht verschwunden. Um sich die fragenden Blicke ihrer Gesprächspartner zu ersparen, hatte sie kürzlich sogar einen wichtigen Geschäftstermin abgesagt.

Immer wieder verzeiht Isabell ihm

Inzwischen sei sie mit den Nerven ziemlich fertig und wolle sich von Carlos trennen. Aber Selma, die mir das alles erzählte, hatte so ihre Zweifel: „Obwohl Isabell weiß, wie unglücklich sie mit diesem Mann ist, kommt sie von ihm nicht los. Immer wieder verzeiht sie ihm und sagt: Er ist kein böser Mensch, er hat nur so starke Gefühle, weil er mich so liebt!“

Selma war über ihre eigenen Worte empört: „Mich macht das ganz verrückt! Das kann doch kein Grund sein, sich misshandeln zu lassen! Mir würde schon eine einzige Ohrfeige zurTrennung reichen! Aber bei Isabell ist das irgendwie anders. Du musst nämlich wissen: Carlos ist nicht der erste Mann in ihrem Leben, der sie schlägt! Tut mir leid, das kann ich nicht verstehen!“

Nein, verstehen kann und muss man das auch nicht! Es lässt sich allenfalls erklären. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Hier geht es nicht um eine Sadomaso-Beziehung, die im beiderseitigen Einverständnis als Rollenspiel nach Regeln abläuft. Hier geht es um brutale Gewalt, die als Herrschsucht einschüchtern und Angst machen soll! Solche Gewalt im Zusammenhang mit Liebe zu dulden, ist ein verhängnisvolles Programm, das sich sehr früh schon, in einer Zeit existenzieller Abhängigkeit, installiert hat.

Ein verhängnisvolles Programm

Wer als Kind mit körperlicher Gewalt aufgewachsen ist, sie selbst am eigenen Körper oder als Gewalt zwischen den Eltern erfahren und miterlebt hat, der hat das Gefühl totaler Ohnmacht früh kennengelernt und ein verunsichertes Bindungsbedürfnis entwickelt. Seine widersprüchliche Erfahrung mit emotionaler Nähe und körperlicher Gewalt – Umarmungen und Küsse einerseits, und Schläge, Geschrei und Tränen andererseits – lassen spätere Liebesbeziehungen zum Wechselbad seiner Gefühle werden.

Geradezu rätselhaft erscheint die Tatsache, dass die Betroffenen immer wieder an Partner geraten, mit denen sie ihr altes Muster fortsetzen. Es scheint so, als hätten sich die traurigen Kindheitserfahrungen inzwischen zu einer Art Modellcharakter für Beziehungen geformt: Liebe und Gewalt gehören offenbar zusammen – Männer sind nun einmal so! Damit ist der eigene Vater rehabilitiert und muss nicht verdammt werden.
Die Gewalt wird verziehen, weil sie in der Kindheit nie als das erkannt werden durfte, was sie in Wahrheit ist: Ein Machtmissbrauch, eine Verletzung der Würde und des Rechts auf körperliche und seelische Unversehrtheit und nicht zuletzt eine Straftat.

Wer sich aus einer solchen Beziehung befreien will, braucht unbedingt Hilfe! Mit Ratschlägen wie: Trenn dich doch endlich von dem Kerl, bevor er dich umbringt! oder Fragen wie: Warum lässt du dir das gefallen? Das hast du doch gar nicht nötig! kann der Betroffene nichts anfangen, solange das alte Programm läuft, in dem Liebe mit Gewalt emotional verknüpft ist. Isabell hatte offenbar schon mehrfach an Trennung gedacht, aber Carlos hatte es mit seinen Liebesschwüren immer wieder geschafft, sie von dem Gedanken abzubringen.

Seit dem Gespräch mit Selma waren inzwischen Monate vergangen. Wie mochte es Isabell wohl gehen? Ich wusste es nicht – sollte es aber bald von Selma erfahren: In ihrem Unglück war Isabell ein höchst zweifelhaftes „Glück“ zu Hilfe gekommen: Zuerst war es nur ein Hauch von Misstrauen gewesen, der aber schließlich zum Verdacht wurde. Irgendwann hatte sie sich heimlich Carlos ́ Handy vorgenommen. Was sie da sah, verschlug ihr die Sprache: Diverse Frauen in eindeutigen Posen und dazu die entsprechenden Mailposts machten Fragen und Erklärungen überflüssig. Carlos betrog sie offenbar schon die ganze Zeit.

Ein zweifelhafter Glücksfall als Lösung

Für Isabell war der Fund tatsächlich ein Glücksfall! Diesen Vertrauensbruch war sie nicht bereit hinzunehmen. Die körperliche Gewalt hatte sie Carlos verzeihen können, solange sie keinen Zweifel an seiner Liebe hatte, aber jetzt stand er als Mann so vor ihr, wie er wirklich war: grausam, lieblos und verlogen. Nichts konnte ihm mehr helfen: keine Schwüre, keine Reue und keine Vorwürfe an Isabell. Die Beziehung war am Ende. Als ich davon erfuhr, waren die beiden bereits getrennt. Die Frage, ob Isabell die Trennung auch ohne die Entlarvung ihres Partners geschafft hätte, hinterlässt einen herben Nachgeschmack und wirft die nächste Frage auf: Wie wird es wohl mit ihren Beziehungen weitergehen? Wird ihr die bittere Erfahrung mit Carlos eine „Lehre“ sein? Würde sie es schaffen, dem nächsten Partner schon bei den ersten Anzeichen von Gewalt den Laufpass zu geben?

Es wird schwierig sein, denn die Gewalt beginnt selten gleich mit Schlägen. Sie baut sich parallel zur Beziehung sukzessive auf. Solange im Opfer Liebe emotional mit Gewalt verknüpft ist, fehlt ihm das Gespür für die Gefahr anfänglicher Grobheiten. Kommt es dann zur Misshandlung, ist es meistens zu spät: die emotionale Abhängigkeit des Opfers ist bereits besiegelt. Wenn Isabell aus der Falle ihrer Opferbereitschaft heraus will, braucht sie zum einen gute Freunde, die als stille Beobachter notfalls helfend zur Stelle sind. Sie sollte aber auch therapeutische Hilfe in Erwägung ziehen, um ihre grundlegende Problematik auflösen zu können – selbst für Experten keine leichte Aufgabe.

„Liebe mit der Pumpgun“ ist jedenfalls weder ein Zeichen besonderer Männlichkeit, noch hat sie mit Liebe und Glück etwas zu tun. Es ist die verhängnisvolle Verstrickung zweier Menschen, die etwas fälschlich für Liebe halten, das in Wahrheit Abhängigkeit durch Unterwerfung ist.
Bis zum nächsten „Moment of Life“!

Herzlichst

Ihre Dörte Thieme