Neurowissenschaft gibt Einblicke in unsere Emotionalität

Auch wenn es z.Z. keine wissenschaftliche Abhandlung gibt, die sich ausdrücklich mit dem Thema „emotionale Erpressung“ befasst, möchte ich die Erkenntnisse der Neurowissenschaft hinzuziehen:  Soweit sie in einem Zusammenhang mit dem Thema stehen, geben sie einen Einblick in das Geschehen unserer Emotionalität, wenn sie unter Druck gerät.

Wo bleibt denn der Verstand?!

Verlustängste, mangelnder Selbstwert und Schuldgefühle des Opfers spielen in der Dynamik der emotionalen Erpressung eine entscheidende Rolle: Sie garantieren dem Erpresser den Erfolg seines Vorgehens, denn er weiß aus Erfahrung, dass er keinen Widerstand zu erwarten hat.

Aber warum ist das eigentlich so? Warum kann sich das Opfer nicht widersetzen, also nicht so reagieren, wie es sich das möglicherweise schon mehrfach vorgenommen hat? Selbst wenn es bemerken sollte, dass hier ein unfaires, übles Spiel läuft, nützt ihm sein längst gefasster Vorsatz im entscheidenden Augenblick nichts. Hilflos fühlt es sich der Erwartung des anderen ausgeliefert und tut das, was von ihm erwartet wird…

Aber was hindert das Opfer eigentlich daran, seinen gefassten Vorsatz umzusetzen? Wo bleibt denn sein Verstand?!

Eine Antwort gibt die Neurowissenschaft:

Das Interesse an den menschlichen Emotionen hat eine historisch lange Tradition, aber erst im Laufe des letzten Jahrhunderts hat die Neurowissenschaft die dominante Rolle der Emotionen im zerebralen Geschehen grundlegend erforscht.

Das (emotionale) „Erfahrungsgedächtnis“, in dem es um das unbewusst gesteuerte Entscheidungsverhalten geht, ist dabei klar abzugrenzen vom „Handlungsgedächtnis“, in dem es um automatisierte Entscheidungs- und Steuerungsprozesse geht.

Handlungsgedächtnis

Jeder Autofahrer wird sich an die ersten verzweifelten Versuche erinnern, alle Hebel, Knöpfe und Pedale in einen koordinierten Ablauf zu bringen und obendrein noch den Verkehr zu beachten: Erst durch die mentale Hilfe äußerster Konzentration wurden die richtigen Handlungsabläufe eingeübt.

In dieser Phase des Einübens wird mithilfe der Konzentration die Großhirnrinde (Kortex) sensorisch, kognitiv und motorisch aktiviert. Je besser die Handlungsabläufe eingeübt sind, umso weniger muss die Abfolge einzelner Aktionen überlegt werden: Die Aktivität der Großhirnrinde verlagert sich in die Basalganglien, die zusammen mit dem Kleinhirn das „Handlungsgedächtnis“ heranbilden. Bis zu 90% unserer alltäglichen Handlungen und Entscheidungen werden von dort aus gesteuert (Roth 2008).

Solange keine neurologische Krankheit oder Verletzung vorliegt, wird der Autofahrer selbst nach langer Pause die einmal „eingeübten“ Handlungsabläufe aus seinem Handlungsgedächtnis wieder abrufen und sie ggfs. veränderten Anforderungen in einem anderen Auto anpassen können.

Erfahrungsgedächtnis:

Während bewusste Vorgänge sich auf der kortikalen Ebene vollziehen, spielen sich unbewusste Vorgänge auf der subkortikalen Ebene im limbischen System ab. Auf der sogenannten zweiten limbischen Ebene findet die Koordinierung von Ereignis und dazugehörigem Gefühl statt. Diese Verknüpfung bildet die unbewusste Grundlage für das spätere individuelle (Entscheidungs-) Verhalten.

Der Hirnforscher Gerhard Roth (2007) stellte fest, dass vieles von dem, was Menschen hoffen, fühlen und wollen, außerhalb der Reichweite ihres bewussten Verstandes entschieden wird. Unbewusste Motive sind für das Entscheidungsverhalten von besonderer Bedeutung.

Das emotionale Ereignis und seine Bedeutung

Der Zugang zum Unbewussten oder auch Vorbewussten ist somit ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis menschlichen (Entscheidungs-) Verhaltens. Zu dieser Erkenntnis kam C.G. Jung schon Anfang des 20. Jahrhunderts (1916 als Vortrag, 1928 GW, Bd.7) In provozierten Spontan-Reaktionen seiner PatientInnen erkannte er verborgene „Komplexe“ als Ursache für Widerstände und Verdrängungsmechanismen im Unbewussten. Das Deuten dieser „Komplexe“ nannte er „Königsweg“, weil er ihn als Zugang zum Unbewussten begriff.

Die im limbischen System entstehenden Gefühle wie Wut, Angst, Aggression oder Lust werden von Roth (2001) als primäre Affekte bezeichnet, die unbewusst ablaufen und nur schwer zu steuern oder zu beeinflussen sind. In diesem subkortikalen System befindet sich das „emotionale Erfahrungsgedächtnis“ (Roth 2001), in dem sich die emotional prägenden Erfahrungen einmal verankert haben. LeDoux (1996) weist darauf hin, „dass ein emotionales Ereignis sehr viel mehr umfasst, als das, was dem menschlichen Geist bewusst ist“.

Die Tatsache, dass Emotionen – im Gegensatz zu Gedanken – weitgehend mit körperlichen Reaktionen verbunden sind (Herzklopfen, Atmung, Gänsehaut, Kloß im Hals, Druck im Magen…), führen Wissenschaftler auf die hohe Aktivität zahlreicher spezifischer Gehirnsysteme zurück, die mit bestimmten Körperorganen interagieren (Damasio, 1994).

Durch die komplexe Verknüpfung neurologischer Abläufe mit den Emotionen, die sich als unbewusste Motive in das Geschehen einmischen, ist die Freiheit unseres Entscheidungsverhaltens eingeschränkt. Durch prägende Ereignisse sind diese Motive irgendwann einmal entstanden, später aber aus unserem Bewusstsein verschwunden. Weg waren sie damit allerdings nicht.

Wir haben nur keine Erinnerung mehr daran.

Dass solche Ereignisse scheinbar „vergessen“ sein können, die ursprünglich durch sie ausgelösten Gefühle aber dennoch weiter existieren, haben Neurowissenschaftler um Justin Feinstein (2010) mit ihrer Studie nachgewiesen: Sie untersuchten Amnesie-Patienten, die ihr Erinnerungsvermögen durch eine Hirnschädigung (Hippocampus-Geschädigte) verloren hatten. Mit ihrer Studie konnten sie belegen, dass die gezeigten Filme und Bilder, mit denen zuvor Emotionen ausgelöst worden waren, zwar nicht mehr erinnert wurden, die Emotionen in den Patienten aber weiter bestanden.

Emotionen tricksen den Verstand aus

Der Hirnforscher LeDoux fand heraus, dass die Mandelkerne auf Angst auslösende Reize (Drohungen, Nötigung, Missbilligung, Einschüchterung), auffallend schnell reagieren. Bevor die Hirnrinde den Reiz für das Bewusstsein verarbeitet hat, zeigt die Emotion bereits  ihre Wirkung. Der Reiz nimmt eine Abkürzung vom Thalamus zur Amygdala – dem Verstand bleibt einfach keine Zeit zum Überlegen. Bevor er die Situation „begriffen“ hat, dominiert die Emotion das Handeln.

Das ist der Moment, in dem das Opfer der emotionalen Erpressung frustriert an sich zweifelt, weil es wieder einmal nicht so reagiert hat, wie es eigentlich wollte.

Auch G. Roth spricht von der „Dominanz der Emotionen“ im zerebralen Geschehen. Aufgrund stärker dimensionierter Nervenbahnen (von den Mandelkernen zum Großhirn) haben sie Vorrang vor der Kognition. Oder anders ausgedrückt: Emotionen haben ein anderes Tempo als der Verstand – sie sind einfach schneller. Zusätzlich gefördert wird ihr Tempo durch Botenstoffe, die unter emotionalem Druck ausgeschüttet werden.

Das ist die Erklärung, warum unsere vom Verstand gefassten Vorsätze unter emotionalem Druck immer wieder wie Seifenblasen zerplatzen.

Im emotionalen Erinnern liegt der Schlüssel

Wenn der verstandesmäßige Zugriff auf Schuldgefühle, Verlust- und Versagensängste nicht möglich ist, das Opfer der Erpressung aber unter dem Druck solcher Emotionen steht, stellt sich die Frage: Was kann es tun, um seine Opferrolle zu beenden?

Der Schlüssel liegt im „emotionalen Erinnern“ bestimmter Ereignisse, die sich in der Vergangenheit mit diesen Emotionen verknüpft haben. Wir sind auf das schmerzhafte „emotionale Erinnern“ dieser Ereignisse angewiesen, um unsere emotionalen Motive und Reaktionen erkennen und verstehen zu können.

Manch rätselhafte eigene Reaktion und Verhaltensweise in der Vergangenheit gewinnt an Klarheit: Es ist wie ein Déjà-Vu – ein Wieder-Erkennen vergessener Gefühlszustände und Emotionen, die von nun an als Boten des eigenen unbewussten Erfahrungsgedächtnisses erkannt werden können. Sie haben sich auf ihre Art immer wieder in Erinnerung gebracht, als wollten sie die Aufmerksamkeit und die Zuwendung einklagen, die ihnen damals im entscheidenden Augenblick verweigert wurde.

Wer das erkennen kann, hält den Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis in der Hand, zu dem die Bereitschaft zum Opferdasein nicht mehr passt. Ohne Opfer aber ist die emotionale Erpressung am Ende – sie funktioniert nicht mehr.

 

Quellen:

Roth, Gerhard (2003) Fühlen, Denken, Handeln: Suhrkamp

Roth, G. (2007) Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten: Klett-Cotta

Roth, G. (2008) Nachwort zu „Schaltstelle Gehirn“ ZEIT Wissen Edition

LeDoux, J. (2001) Das Netz der Gefühle: DTV

C.G.Jung (1928) Band 7, Gesammelte Werke– „Zwei Schriften über Analytische Psychologie“: Patmos

Damasio, A.R. (1995) Descartes´ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn: Ullstein

Feinstein, J. et al. (2010) Sustained experience of emotion after loss of memory in patiens with amnesia: PNAS, USA