Woran kann ich emotionale Erpressung erkennen?

Was nützt mir all mein Wissen über emotionale Erpressung, wenn ich gar nicht in der Lage bin, sie zu erkennen? Es ist die Frage Nr. 1 für jeden, der Klarheit haben will: >Werde ich gerade emotional erpresst?< Die Antwort ist eigentlich gar nicht so schwer. Aber diese Frage kann sich erst dann jemand stellen, wenn er bereits vorher etwas über emotionale Erfahrung erfahren hat. Wer gar nicht weiß, was das ist oder wie sie funktioniert, wird sich die Frage nicht stellen können.

Plötzlich fühlen Sie sich schlecht

Stellen sie sich bitte einmal folgende Situation vor: Sie unterhalten sich mit Ihrem Freund oder Ihrer Freundin über das letzte Wochenende, das Sie getrennt verbracht haben. Sie waren zur Geburtstagsfeier bei Ihren Eltern und haben dort Ihre Geschwister getroffen, die Sie schon länger nicht gesehen haben. Es war ein turbulentes Wochenende, ständig war irgendetwas los. Anrufe und WhatsApp-Nachrichten haben Sie erst mit Verspätung am Abend entdeckt. Mit einem kurzen, aber lieben Gruß haben Sie geantwortet.

Jetzt sind Sie zurück, sitzen beide bei einem Glas Wein zusammen und unterhalten sich. Sie haben sich auf das Wiedersehen gefreut und sind ganz entspannt. Plötzlich fühlen Sie sich sehr unwohl. Sie wissen gar nicht, wieso und warum. Wieso ist die Stimmung auf einmal so anders? Was ist hier gerade passiert?

Hast du mich denn gar nicht vermisst?

Es könnte z.B. die Frage gewesen sein: >Warum bist du eigentlich nicht an dein Handy gegangen? Hast du mich denn gar nicht vermisst?< Wenn Sie ehrlich wären, müssten Sie jetzt sagen: >Nein, habe ich nicht. Es war so schön mit meinen Eltern und Geschwistern!<  Aber Sie sehen den traurigen Blick und sagen: >Natürlich habe ich dich vermisst!< Vielleicht entsteht jetzt eine Auseinandersetzung darüber, wie wichtig es ist, dem anderen das zu zeigen, und welche Gefühle ein verpasster Anruf auslösen kann und so weiter…Am Ende fällt eventuell dann der Satz: >Auf jeden Fall war (bin) ich sehr enttäuscht von dir.< Jetzt fühlen Sie sich richtig schlecht, oder? Sie sind schuld daran, dass der andere sich schlecht fühlt. Jetzt fühlen Sie sich also beide schlecht.

Ein schwieriger Fall

Der Fall ist schwierig, weil Ihnen gezeigt wird, dass Sie den Menschen, den Sie wirklich sehr gern haben, traurig gemacht und enttäuscht haben. Sie machen sich Vorwürfe, weil Sie nicht auf Ihr Telefon geachtet haben. Aber war das wirklich so ein Vergehen? Kann das ein Grund sein, so enttäuscht von Ihnen zu sein? Bleiben Sie jetzt ganz bei sich, Ihrem schlechten Gefühl und Ihrer Wahrheit! Sie haben den anderen nicht vermisst! Das heißt doch nicht, dass Sie ihn nicht mehr gern haben! Schließlich haben Sie sich auf das Wiedersehen so gefreut. Sie haben einfach nur seine Erwartungen nicht erfüllt. Und um die geht es hier, um nichts anderes.

Enttäuschte Erwartungen

Enttäuschte Erwartungen sind ein kraftvolles Mittel, um emotional Druck zu erzeugen. Sie kommen leise, bescheiden und meistens traurig daher, und darum wird die Erpressung so schwer erkannt. Sie lösen sofort ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle aus. Die Botschaft heißt: >Jetzt weißt du, was mich so traurig macht.<  Seien Sie sich darüber im Klaren, dass nicht Sie die Enttäuschung verursacht haben! Es waren bestimmte, unausgesprochene Erwartungen des anderen, von denen Sie nichts wussten.Aber waren Sie deswegen rücksichtslos? Hier geht es nicht um versäumte Rücksichtnahme sondern um die Frage, was sich hinter den Erwartungen des Partners verborgen gehalten hat. War es die Angst, nicht wirklich geliebt zu werden, die Angst, den anderen zu verlieren? War es der Wunsch nach Liebesbeweisen, um sich gut fühlen zu können?

Wenn Sie beide sich offen und ehrlich darüber austauschen, kann daraus ein wertvolles Gespräch über Nähe und Distanz und vorhandene Erwartungen und Ängste in Ihrer  Beziehung werden.