Einsamkeit schmerzt Weihnachten besonders

Wie bitte?! Mit Sonnenbrille saß Luisa mir im Straßencafé gegenüber und löffelte ihren Eisbecher. Es war einer der letzten schönen Spätsommertage – und Luisa dachte an Weihnachten? Seltsam….

Plötzlich begriff ich, wie sehr Luisa sich vor diesem Fest fürchten musste.Wenn sie aber schon jetzt solche Gedanken hatte, wie würde es ihr dann erst gehen, wenn in der dunklen Jahreszeit überall die Fenster weihnachtlich erleuchtet wären, wenn es in den Supermärkten keine Rettung vor der Dauerbeschallung mit Weihnachtsliedern mehr geben würde? Für Wochen würde Luisa keinen Einkauf mehr erleben, ohne „Last christmas“, „Do They Know It ́s christmas“ und „o du fröhliche“!

Aber hier und heute war wirklich nicht der richtige Moment, mit Luisa über ihr Weihnachts-Problem zu sprechen.

Einige Wochen später saßen wir mit einem Glas Rotwein in der Hand bei Kerzenschein in Luisas Wohnung und unterhielten uns erst einmal über Gott und die Welt und dann über ihr Problem, das sie mit Weihnachten hatte.

Angefangen hatte es vor drei Jahren mit dem Ende ihrer letzten Beziehung. Trotz ihrer intensiven Suche, hatte sich auch in diesem Jahr ihre Hoffnung auf eine neue Liebe nicht erfüllt. Gerade im Hinblick auf Weihnachten schien sie ihre vergebliche Suche nach einem neuen Partner besonders zu schmerzen. Sie fühlte eine schmerzliche Einsamkeit, denn sie meinte, nur noch verliebte Paare um sich herum zu sehen. „Alle“ hatten jemanden an ihrer Seite, nur sie nicht…. Deprimiert und ratlos saß sie mir gegenüber. In den vergangenen zwei Jahren seien ihre Versuche, Weihnachten irgendwie heil zu „überstehen“, ziemlich gescheitert:

Im ersten Jahr nach der Trennung, hatte sie weit weg vom Ort ihres Unglücks im tropischen Klima der Karibik Weihnachten einfach vergessen wollen. Im gleißenden Sonnenschein bei 40 Grad ohne Weihnachtsmusik, ohne Weihnachtsbäume und Kerzenschein, sollten sentimentale Gedanken keine Chance haben, ihr die Stimmung zu verderben. Pünktlich am Heiligabend erklang zu ihrem Schrecken jedoch aus sämtlichen Lautsprechern des Hotels Weihnachtsmusik, und überall funkelten bunte Lichterketten. Sogar an einen geschmückten Weihnachtsbaum hatte der eifrige Hotelier gedacht – alles aus Plastik, versteht sich. Aus diesem skurrilen Arrangement ergab sich, wie Luisa meinte, dann eine sehr eigenartige Stimmung, die zwar nicht so weihnachtlich wie zu Hause war, aber eben auch nicht frei von Sentimentalität. Als sie nachts allein in ihrem Zimmer war, holten sie Schmerz und Verzweiflung endgültig ein und waren bis zur Rückreise nicht mehr zu verscheuchen. Luisa hatte erkennen müssen, dass sie ihrem Problem durch die Reise nicht entkommen war.

Im zweiten Jahr ihres Singledaseins hatte sie es vorgezogen, im Land zu bleiben und ihren Bruder mit seiner Familie zu besuchen. Es war die einzige Verwandtschaft, die sie noch hatte. Alte Boshaftigkeiten ihrer Schwägerin wollte sie wenigstens über die Feiertage begraben. Nach ihrer Rückkehr stand für sie fest: Es sollte der vorerst letzte Versuch gewesen sein…

Natürlich hatte Luisa auch gute Freunde, aber die meisten waren mit ihren Familien, Eltern oder Geschwistern beschäftigt. ob sie die lieb gemeinte Einladung ihrer langjährigen Freundin Rosi am Heiligabend annehmen würde, wusste sie noch nicht. Rosis Mann war ein ausgemachtes Ekel und ihre drei Kinder extrem anstrengend. Rosi riss sich jedes Jahr zu Weihnachten in Stücke und am Heiligabend saß sie erschöpft zwischen Bergen von Geschirr, Geschenken, Kartons und Papier. Die Wohnung glich mehr einer Shoppingmall, als einem Ort der besinnlichen Ruhe. So wollte Luisa Weihnachten eigentlich auch nicht verbringen. Aber wie denn dann?

Ich selbst war inzwischen ziemlich ins Grübeln gekommen: Warum war Weihnachten eigentlich für so viele Menschen – nicht nur für Singles – ein so heißes Eisen? Luisa war da absolut keine Ausnahme. Wieso ist das „Fest der Liebe“ mit so zwiespältigen Gefühlen behaftet?

Was macht es zum meist geliebten, aber für viele Menschen eben auch zum meist gefürchteten Fest des Jahres? Wieso bereiten sich Kliniken Jahr für Jahr ausgerechnet zu Weihnachten auf Krisenintervention, Suizidversuche und Alkoholvergiftungen vor? Und welche Gründe mag es geben, dass neben dem Frühling ausgerechnet die Weihnachtszeit für Psychologen und Soziologen als „Trennungszeit“ gilt?

Für eine der Hauptursachen halten sie die allzu hohen Erwartungen der Menschen an dieses „Fest der Liebe“. Wenigstens einmal im Jahr wollen sie ihren Traum von Liebe und Harmonie verwirklichen. Das Bemühen, Koflikte und Krisen auszublenden, soll ihnen dabei helfen, Weihnachten so zu erleben, wie sie es aus der Kindheit erinnern, oder wie sie es in guten Zeiten als Erwachsene schon erlebt haben – oder wie es ihnen die Werbung suggeriert. Unbemerkt geraten sie unter einen emotionalen Erfolgszwang, der sie in eine Sentimentalitätsfalle führt und fast zwangsläufig an der Wirklichkeit scheitern muss: Nichtige Anlässe reichen aus, um unterdrückte Konflikte aufbrechen zu lassen – brüchige Fassaden beginnen zu bröckeln.

Wie jedes Jahr werden uns auch in diesem Jahr wieder Paare begegnen, die ihre Einkäufe und ihren Tannenbaum einträchtig nach Hause tragen. Und wie in jedem Jahr werden Bilder wie diese den einen oder anderen wehmütig stimmen, weil er etwas gesehen hat, das ihm bildhaft vor Augen geführt hat, was er selbst so schmerzlich vermisst.

Dabei weiß niemand, wie glücklich und zufrieden diese Paare im Kerzenschein ihres Tannenbaums wirklich sein werden. Vielleicht gehören sie zu den Paaren, die gemeinsam einsam sind….., oder die ihren Baum schon am ersten Feiertag im Schutz der Dunkelheit rausschmeißen, nachdem sie sich vorher wie die Kesselflicker gestritten haben. Vielleicht stand der Baum wieder genauso schief wie im letzten Jahr, vielleicht ging es wieder um das vom einen geliebte und vom anderen als Spießer-Deko geschmähte Lametta. Und wenn man sowieso schon am Streiten war, warum nicht gleich noch den nächsten Zankapfel in den Ring werfen? Die Stimmung war doch eh im Eimer….

Von Problemen dieser Art war Luisa aufgrund ihres Singledaseins immerhin frei. Aber in ihrer vorweihnachtlichen Depri-Stimmung war sie gerade auf dem besten Weg, sich im Selbstmitleid zu verlieren: Alles drehte sich bei ihr um das, was sie nicht haben konnte. Die Aussichtslosigkeit empfand sie als zutiefst deprimierend. Womit hatte sie das nur verdient?

So blockierte Luisa alles, was eine Lösung ihres Problems bedeuten könnte. Das war Selbstsabotage! Aber war Luisas Problem denn überhaupt zu lösen? Ein liebevoller Partner ließ sich schließlich nicht aus dem Hut zaubern!

Natürlich nicht. Luisa würde umdenken und handeln müssen – und zwar rechtzeitig, bevor sich ihr Dilemma verschärfen würde! Worauf wartete sie noch?

Die Realität konnte sie im Moment nicht ändern, aber ihre Idealvorstellung von Weihnachten und ihre Erwartungen, die sie damit verband, waren nicht nur veränderbar, sie mussten aufgegeben werden.

Liebe und Freude waren auch ohne Partner zu verwirklichen. Diese Erfahrung würde sie jedoch erst dann machen können, wenn sie alle Gedanken über Bord geworfen hatte, die ihr im Moment so zusetzten. Dann aber sollte sie mit der Planung beginnen: Das, was Luisa im Moment am meisten deprimierte, hatte nämlich einen durchaus positiven Aspekt: Sie war unabhängig und frei! Sie konnte selbst bestimmen, mit wem sie wann zusammen sein wollte. Ganz bewusst würde sie sich in der Weihnachtszeit Momente schaffen können, die Freude und Spaß versprachen.

Niemand hinderte sie daran, ihre Freunde zu sich zu holen, oder sich mit ihnen fürs Kino oder zum Essen beim Italiener um die Ecke zu verabreden.
Die meisten waren jetzt zwar im Stress und fanden keine Zeit, selbst einzuladen, aber über eine Einladung zu einem geselligen Abend bei Luisa würden sie sich vielleicht doch freuen. Kleine Einladungen zu Glühwein und Fingerfood, über die Weihnachtszeit verteilt, würden Leben in ihre Wohnung bringen.

Luisa könnte ihre Freunde aber auch mit einer eher abgefahrenen Einladung überraschen und sie zum weihnachtlichen „Grusel-, Gräuel- oder auch Schrottwichteln“ einladen – der Punk-Variante zum biederen Julklapp! Je verrückter und geschmackloser, umso besser! Held des Abends ist, wer am Ende den gruseligsten, geschmacklosesten Grusel sein Eigen nennt – völlig crazy, aber es wird garantiert viel gelacht! Wenn sie will, kann sie als Gastgeberin dem Helden „zum Trost“ ja noch et- was Nettes überreichen. Schon die Vorbereitung dieses Abends würde ihre Stimmung garantiert beflügeln.

„Grusel-Erfahrene“ behaupten, dies sei ein absolut sicherer Weg, eine Weihnachts-Melancholie in eine befreiend heitere Weihnachts-Laune zu verwandeln, in der für Sentimentalität kein Platz ist – was ja nicht heißen muss, dass sie für alle Zeiten verbannt ist!

Für die Festtage sollte Luisa rechtzeitig ein Wellnesshotel buchen, um sich dort von der anstrengenden Weihnachtszeit mit ihrer „Wahlverwandtschaft“ zu erholen – und anderen Singles zu begegnen. „Es wäre Weihnachten einmal anders.“

Wie auch immer Sie das Fest verbringen werden: Ich wünsche Ihnen, Ihrer Familie und Ihrer „Wahlverwandtschaft“ fröhliche Momente in der Weihnachtszeit!

– und natürlich einen „guten Rutsch“ ins Neue Jahr 2016!

Herzlichst
Ihre Dörte Thieme