Geringer Selbstwert entsteht nicht erst im Erwachsenenalter
Unter Selbstwert verstehen wir die Wertschätzung, die ein Mensch sich selbst entgegenbringt, wie er sein Selbstbild bewertet und wie er es darstellt.
Ist sein Selbstwert gering, hat das weitreichende Auswirkungen. Es hat Folgen auf das Gefühlsleben des Betreffenden, auf sein Verhalten und damit zwangsläufig auch auf seine sozialen Beziehungen.
Ein geringer Selbstwert entsteht nicht erst im Erwachsenenalter. Er gehört zu den früh erworbenen Werten, die sich bereits in der Kindheit heranbilden.
Ein Kind wird sich später selbst kaum wertschätzen zu können, wenn es wenig oder gar keine Wertschätzung erhalten hat. Wer als Kind häufig wegen seiner Leistungen oder seines Verhaltens geringschätzig behandelt und gedemütigt wurde, wird noch als Erwachsener ein Problem mit seinen Erfahrungen haben,
Der Regressive als Opfer
Das Fatale ist, dass der Betreffende mit dem ewigen Zweifel lebt, für andere Menschen nicht wertvoll und liebenswert zu sein. Abhängig von seinem Wesen und seinem Charakter wird er den regressiven oder aber den aggressiven Weg für sich wählen. Er wird also sein Leben entweder schüchtern und bescheiden im Hintergrund verbringen, oder aber aggressiv und fordernd an der Front des Lebens.
Der Regressive wird stets bemüht sein,nicht aufzufallen und sich möglichst unangreifbar zu verhalten. Gerät er unter emotionalen Druck, zieht er es vor, nachzugeben und sich zu fügen. Sein geringer Selbstwert macht ihn erpressbar, weil er eine Abneigung hat, sich zu widersetzen. Widerstand und Rebellion sind ihm völlig fremd, er hat sie nie kennengelernt und der Gedanke daran ist ihm ein Gräuel. Schüchtern und bescheiden, wie er ist, gehört er zur Gruppe der „Pflegeleichten“, den in ihrem sozialen Umfeld Beliebten. – Es sei denn, der Regressive gehört zu denen, die Neid und Missgunst entwickelt haben. Dann ist die „graue Maus“ durchaus in der Lage, unauffällig im Hintergrund ihre Intrigen zu schmieden…
Der Aggressive
Der Aggressive hingegen hat das permanente Bestreben, anderen und schließlich auch sich selbst einen Wert zu beweisen, den er eigentlich gar nicht selbst in sich fühlt. In ihm sitzt eine tiefe Unsicherheit, die ihm nicht unbedingt bewusst ist. Aber er ist sehr bemüht, sie zu kompensieren: Mit Perfektionismus, Kontrollzwang, überhöhtem Ehrgeiz, eventuell auch mit Suchtverhalten versucht er, seine Welt im Lot zu halten. Möglicherweise hat er eine Neigung, andere Menschen zu demütigen, sie lächerlich zu machen oder sie spöttisch, geringschätzig von oben herab zu behandeln.
Auf seiner Suche nach Bestätigung ist der Aggressive auf die Reaktionen anderer Menschen angewiesen, die ihm als „Selbstwertquelle“ dienen. Da erscheint es schon fast logisch, dass er wie eine Mimose reagiert, wenn andere ihn kritisieren. Für ihn ist es kein Widerspruch, dass er selbst keine Hemmungen hat, andere auf ziemlich grobe Weise auf vermeintliche Fehler hinzuweisen. Bleibt auf der Suche nach Anerkennung der Erfolg bzw. die Bestätigung aus, werden ihm Freundschaft oder Gefolgschaft verweigert, gerät er in Katastropfenstimmung. Der Misserfolg wird schlagartig für ihn zum Spiegel seiner eigenen Geringschätzung: In solchen Momenten reagiert er unter Umständen mit emotionaler Gewalt, also aggressiv und voller Wut. Die ausgebliebene Bestätigung empfindet er als Kränkung, als Ablehnung und als Beleidigung seiner Person. Wieder einmal ist ihm doch nur bewiesen worden, wie wenig man von ihm hält.
Der Aggressive als Erpresser
Ein Problem mit dieser Überempfindlichkeit haben vor allem die Partner und die Menschen im sozialen Umfeld des Betreffenden. Solange sie es nicht schaffen, sich klar zu positionieren und ihm Grenzen aufzuweisen, sind sie seinen Launen ausgeliefert: Sie leben mit seiner Unberechenbarkeit, weil sie nie sicher sein können, wann er sich das nächste Mal durch sie gekränkt oder beleidigt fühlen wird. Partnerschaften und Beziehungen sind infolgedessen konfliktträchtig und störanfällig. Wer als Partner Frieden und Harmonie wünscht, wird versuchen, sich auf diese Überempfindlichkeit einzustellen. Sein Bemühen um Ruhe und Frieden beschert ihm allerdings einen zweifelhaften Erfolg: Mit seinem Wunsch, der emotionalen Gewalt so entgehen zu können, macht er sich erpressbar und selbst zum Opfer. Am Ende ist es ein trügerischer Frieden, der nur bis zum nächsten Mal halten wird….